Benjamin Künzel
Klassik.com, Germany
Juni 2017
PERFORMANCE
RECORDING

Joseph Haydns Oratorium 'Die Jahreszeiten' genießt eine nicht zu verleugnende Popularität, auch wenn das Werk deutlich im Schatten der übermächtigen 'Schöpfung' steht. Das mag zu einem nicht unbeträchtlichen Teil daran liegen, dass die 'Jahreszeiten' allein schon auf der textlichen Basis enervierend betulich daherkommen können. So bemerkenswert in vielen Punkten Haydns Musik ist, so schwer verdaulich ist die deutsche Dichtung von Gottfried van Swieten. Die Übertragung des deutschen Librettos durch van Swieten ins Englische—Haydn wollte seine beiden späten Oratorien in beiden Sprachen aufgeführt wissen—scheint auch nicht besonders geglückt. Allein schon diesen Umstand nimmt sich der Dirigent Paul McCreesh zum Anlass für seine Neueinspielung der Haydn’schen 'Jahreszeiten' vom Juni 2016 als 'The Seasons': McCreesh hat nämlich eine neue englische Übersetzung angefertigt, die sich sprachlich am Englisch des frühen 19. Jahrhunderts orientiert. Und diese Neudichtung, die das deutsche Original wohl wesentlich treffender umsetzt, verspricht auf der textlichen Ebene eine wirkliche Ehrenrettung der 'Seasons' für zukünftige Aufführungen.

In dieser neuen englischen Version sind die 'Seasons' nun als Doppel-CD beim Label Signum erschienen. Paul McCreesh steht natürlich selbst am Pult seines Originalklangensembles, den Gabrieli Players, die vom Wroclaw Baroque Orchestra verstärkt werden—und das ist wörtlich zu nehmen. Denn McCreesh hat für seine Produktion auf Haydns Fassung der 'Jahreszeiten' für die Aufführungen 1801 in Wien zurückgegriffen. Dort kam das Oratorium in großdimensionierter Besetzung zu Gehör, mit einem gigantisch großen Streicherapparat, mehrfach besetzten Bläsern, darunter 10 Hörner, und riesigem Chor—und das nicht aus einer abstrusen Bearbeiterlaune heraus, sondern von Joseph Haydn autorisiert. In dieser Fassung hört man die 'Jahreszeiten' selten bis nie. Doch nun dokumentiert McCreeshs Neueinspielung dieses Experiment, das man zweifelsohne als durchweg gelungen bezeichnen darf.

Die ‚Seasons‘ verlieren in dieser Lesart alles von ihrer Betulichkeit. Was bleibt, ist ein ungemein lebendiges, kühnes Werk, das oftmals mehr an ein wahres Naturspektakel oder eine vollwertige Oper heranreicht als an ein statisch zelebriertes Oratorium. Dabei sind McCreesh und seine Musiker niemals nur laut oder ungestüm, im Gegenteil. Die Kontraste sind mit großer Sorgfalt herausgearbeitet und das Klangbild der Aufnahme fängt die enorme dynamische Spannweite effektvoll ein. Bei intimeren Szenen verkleinert McCreesh sein Instrumentarium auf ein vertrautes Minimum und nutzt die Klangmasse vor allen in den Chorpassagen. So muss niemand stimmlich kämpfen, vielmehr unterstützt der kreative Umgang mit den Instrumentengruppen und ihrer Größe den dramatischen Charakter der 'Seasons'.

Daran haben auch die drei hervorragenden Solisten erheblichen Anteil. Carolyn Sampson kann als Landmädchen Hanne geradezu als Idealbesetzung gelten. Jugendlich, frisch und dabei so gar nicht naiv legt sie sich mit ihrem warm schimmernden Sopran mächtig ins Zeug. Dabei holt sie aus den Rezitativen so viel Ausdruck heraus, dass man glaubt, ein völlig neues Werk zu erleben. Ein besonderer Moment ist das Herbst-Duett mit dem Tenor Jeremy Ovenden, der als Lukas eine ausnehmend gute Figur macht. Wie auch Sampson unterstützt er das Situative der Szenen, nicht deren erzählerischen Charakter. Und auch Andrew Foster-Williams beeindruckt mit seinem klangvollen Bass-Bariton als Simon. Ein paar wenige Stellen geraten dem Sänger, gerade im Herbst, vielleicht etwas zu dämonisch in der Farbgebung, aber im Zusammenhang mit dem vorherrschenden Operngestus der Einspielung fügen sich solche Wagnisse gut ins Gesamtbild.

Nicht unerwähnt bleiben darf der mitreißende National Forum of Music Choir. Trotz beachtlicher Masse zeichnet sich der Chor durch seinen durchsichtigen Klang und seine faszinierende Differenziertheit aus, wobei auch sprachlich hervorragend artikuliert wird. Im Zusammenspiel aller Beteiligten entsteht so eine strukturell klärende und gattungsgeschichtlich erhellende Interpretation der 'Seasons', die Haydns Oratorium gründlich entstaubt. Alle 'Jahreszeiten'-Skeptiker sollten sich einmal das hier eingespielte Rezitativ vor dem Sommer-Gewitter anhören, dessen Dichte und gefährliche Ruhe elektrisierend wirken. Der anschließende Sturm verweht die letzten Zweifel an Haydns kühner Musik. Und richtig spektakulär klingen die brutalen Hörner oder auch das vom Schlagwerk derb angetriebene Weinfest am Ende des 'Herbstes', dessen knackig kurzer Schlussakkord das akustische Glücksgefühl über diese konsequente Haltung nur noch verstärkt.

Paul McCreeshs neue 'Season'-Aufnahme ist vielleicht nichts für empfindliche Puristen, dafür aber für alle, denen der Zauber der 'Jahreszeiten' bislang entgangen sein mag.

Klassik.com, Germany