Hartmut Hein
Klassik.com, Germany
Dezember 2016
PERFORMANCE
RECORDING

Nach 1999 hat Angela Hewitt Bachs berühmte Aria-Veränderungen 2015 ein zweites Mal unter Studio-Bedingungen eingespielt. Ein neuer Fazioli-Flügel tritt gegen einstmals Steinway an. Und die erreichte Reife gegen Versuchungen der Attacke.

Diese Aufnahme ist eingangs wie eine routinierte Führung durch eine prominente Bildersammlung, bei der in aller Ruhe manches gut sichtbare und auch manches versteckte Detail eines altbekannten Bildes liebevoll angesprochen und einem wieder bewusst gemacht wird. Man merkt, wie die Führerin sich freut, ihre aktuelle Perspektive jetzt nochmals einem größeren Publikum mitteilen zu dürfen. Sie genießt von Beginn an ihre Worte, das Nachvollziehen der Stimmen und Dialoge, mit vorgeblicher Ruhe und Souveränität aufgrund jahrzehntelanger Berufserfahrung. Der relativ umfangreiche Booklet-Text (dreisprachig inklusive Deutsch) ist ebenfalls von diesem Geiste, etwas essayistisch, teils objektiv, teils selbstbewusst mit zunehmenden kleinen Show-Effekten in der individuellen Charakterisierung jeder einzelnen Variation. Die parallele Lektüre beim Hören lohnt, die Musik hat natürlich noch mehr Zeit und in den Wiederholungen Gelegenheit, Strukturelles und Alternatives zu exponieren. Das fängt bei der sehr ruhigen, auf fast viereinhalb Minuten veranschlagten Aria an (am Ende kommt sie ‚da capo‘ retrospektiv noch zurückhaltender dann ohne Wiederholung aus). Die Aria ist schon ganz eigene Vorstellung, Selbstpräsentation in der gewählten Beleuchtung, Vorzeigen des spezifisch gewählten und tadellos aufgenommenen Klavierklangs.

In der Tat hat der vor die Ohren wie vor die eigenen Finger gesetzte Fazioli fast nur warme, freundliche Regionen, nichts Klirrendes selbst in der resolut-erhaben begonnenen und stürmisch wie eine Liszt-Etüde mit massiven Bässen fortgesetzten 29. Variation: gewissermaßen schon die finale Virtuosen-Kadenz des Zyklus, welche dem heiter genommenen Jubilus des 'Quodlibet' als endgültigem Zielpunkt vorausgeht (der verspielte kurze Aria-Epilog dann wie mit Mahlerschem Fern-Orchester nachgetragen). Der Fazioli hat bei Hewitt viel Orchestrales, ihre pianistische Reife zeigt sich durchgängig in der Verwendung der vorgefundenen und wie für Bach neu erfundenen Klavierfarben als romantische, oft an Bach-Sichten Godowskys oder Busonis, ja vielleicht sogar manchmal Stokowskis Orchesterwelten erinnernde Palette. So wie Wanda Landowska erfindet auch Angela Hewitt nun—allerdings keineswegs schon ‚im Alter', auch wenn man das manchmal denken möchte—ihre ideale klangliche Kolorierung als Medium einer beeindruckenden persönlichen intellektuell und emotionalen Werk-Durchdringung. Selbst das Tempo darf da relativ sein: Variation 22 enthält ganz natürlich ein Accelerando, die rhythmisch überwiegend grundstabile Variation 27 in den das Tanzmotiv nicht immer gleichmäßig umwirbelnden Begleit-Turbulenzen hingegen viel dynamisches Spiel, das jede impressionistische Ruhe unterläuft. Jede Variatio ist für sich inspiriert und transponiert das Komponierte in eine Vielzahl von Klangmustern nicht zuletzt der diversen Hewitt verfügbaren Anschlagsvarianten (ihr gerade erst begonnener erster Scarlatti-Zyklus auf CD und Fazioli erklärt da übrigens komparativ einiges, wie dieser Bach mit seinen eigenwilligen Klangfindungen nun wiederum eine ähnlich facettenreiche Scarlatti-Fortsetzung verspricht).

Man kann Angela Hewitt höchstens vorwerfen, dass sie manchmal sogar zu weit geht mit ihrem ‚pianistischen‘ Kaleidoskop, das die Klangwelten eben nicht der Bach-Zeit (das bleiben die uns immer unbekannten, auch auf ‚Original-Instrumenten‘ nur hypothetisch, fiktiv erahnbaren Zeiten), sondern von zweihundert Jahren Fortepiano-Tradition vorführt, eben Forte und Piano, Gould und Busoni, auch rhythmischer Flow im postmodernen Zeitalter der Jazz- und Pop-Rezeption Bachscher Vorlagen. Jede Interpretation der Goldberg-Variationen, jeder Pianistin ist eine aktuell sichtbare historische Insel. Dass Hewitt inzwischen nicht mehr in der altehrwürdigen Henry Wood Hall (wie 1999), sondern in der Berliner Firlstraße in der Christus-Kirche aufnimmt (die Briten mögen ihr diese merkwürdig genaue Lokalisierung verzeihen), ist da ebenso eine Fußnote wie die Feststellung, dass die eingangs etwas routiniert wirkende Inszenierung der analytischen Reife im Lauf der Variationen dann wie beschrieben doch in die kraftvoll-virtuose romantische Attacke mündet—und diese als angemessenes Darstellungsmittel bei Bach wieder nachhaltig (und ziemlich hinterhältig) rehabilitiert.

Klassik.com, Germany