Michael Loos
Klassik.com, Germany
August 2015
PERFORMANCE
RECORDING

Martin Roscoe ist den Klavierwerken Ernö Dohnányis zwar technisch vollauf gewachsen, hätte aber vor allem im dynamischen Bereich noch mehr Wirkung erzielen können.

Wann endete die musikalische Romantik? Eine heikle Frage, wohl kaum abschließend zu beantworten und voller Ausnahmen. Selbst wenn man, wie es viele tun, spätestens nach dem Tod von Richard Strauss (1949) einen ohnehin schon großzügig ins 20. Jahrhundert hinein verschobenen Schlussstrich ansetzt, bleiben (spät-)romantische Strömungen unter einigen Komponisten präsent. Beim Publikum konnten diese Tondichter allerdings kaum noch Erfolge erzielen. Erich Wolfgang Korngolds heute als Meisterwerk gewürdigte, bei ihrer Uraufführung 1954 jedoch fulminant durchgefallene Symphonie in Fis-Dur ist hierfür nur ein Beispiel. Korngold schrieb dieses Werk im gleichen Stil wie seinen 1920 entstandenen Kassenschlager 'Die tote Stadt', doch der Geschmack der Zuhörer hatte sich seither radikal gewandelt. Auch der Ungar Ernö (Ernst von) Dohnányi (1877–1960) komponierte nach 1945 im Wesentlichen so weiter, wie er in den 1890er Jahren begonnen hatte—mit Anklängen an Schumann, Chopin und Brahms. Kleinere Achtungserfolge in seiner neuen Heimat Florida gelangen ihm noch, aber seine internationale Reputation von einst konnte auch er nicht mehr erreichen. Nach etwa 50 Jahren Dornröschenschlaf erlebt Dohnányis Werk mittlerweile eine erstaunliche Renaissance, weniger im Konzertsaal und mehr auf Tonträgern, wo inzwischen fast sein gesamtes Werk verfügbar ist.

Gewichtigen Anteil daran hat der britische Pianist Martin Roscoe, der schon seit einiger Zeit den weniger ausgetretenen Pfaden des Klavier-Repertoires folgt und dem interessierten Publikum einst hochgeachtete Tondichter wie Szymanowski oder Widor ins Gedächtnis gerufen hat. Roscoes Einspielung sämtlicher Klavierwerke Dohnányis ist mit dieser Veröffentlichung bei Folge 3 angelangt; die Stücke umfassen die Jahre von 1897 bis 1928, die Zeit also, in der der Ungar seine größten Erfolge als Komponist und Pianist feierte. Etwas von jenem virtuosen Glanz findet sich vor allem in der 'Naila'-Transkription nach Léo Delibes (Track 13), einem Bravourstück der alten Schule, bei dem Roscoe seine technischen Fähigkeiten voll ausspielen kann. Die beiden 30 Jahre später entstandenen Johann-Strauß-Transkriptionen ('Schatzwalzer' und 'Du und Du') wirken da etwas blasser, haben aber immer noch viel Charme. Wer etwa die Strauß-Bearbeitungen von Tausig oder Godowsky liebt, kommt hier auf jeden Fall auf seine Kosten.

Weniger überzeugen kann Roscoe mit der 'Ruralia hungarica' op. 32a, einer Folge von sieben Klavierstücken, die Dohnányi als Komponisten von höchster Inspiration und Gestaltungskraft zeigen. Die Nähe zu Schumann und Chopin ist unüberhörbar, doch der Ungar konnte mühelos in wenigen Takten ein individuelles Profil herstellen, etwa im sehr anspruchsvollen zweiten Stück. Roscoe bleibt solchen Passagen manuell nichts schuldig, aber vor allem im dynamischen Bereich verschenkt er einiges an Potential. Dies gilt auch für die sehr melodieseligen drei Stücke op. 23, in denen der Pianist die lyrischen Linien zwar sehr schön nachzeichnet, aber ruhig noch etwas deutlicher in den Pianissimo- und Fortissimo-Bereich hätte ausgreifen dürfen. Womöglich trägt zu diesem Eindruck auch die Klangtechnik bei: Der Steinway-Flügel wirkt merkwürdig fern und nicht so rund und volltönig, wie man es sonst von Hyperion kennt. Dies fällt in den zurückhaltenderen Abschnitten (etwa dem 'Andante poco moto, rubato', Track 3) deutlicher auf als in den lauteren Passagen.

Trotz dieser Einschränkungen ist die dritte Folge mit Dohnányis Klaviermusik ein verdienstvolles Unterfangen von hohem Repertoirewert, denn außer Roscoe hat sich kaum ein Pianist des doch recht umfangreichen und substanziell hochwertigen Klavierschaffens des Spätromantikers angenommen. Dies mag ganz praktische Gründe haben—schließlich sind noch bis zum Jahr 2030 für eine Dohnányi-Aufführung GEMA-Gebühren fällig. Doch jeder Pianist, der eines der Werke in sein Konzert aufnimmt—etwa die raffinierten Variationen über ein ungarisches Volkslied op. 29, die Roscoe hörbar fein ausdifferenziert—kann sich der Zustimmung des Publikums sicher sein. So mancher Hörer mag dabei denken: Wie schön, dass Ernö Dohnányi die eigentlich längst zu Ende gegangene musikalische Romantik noch ein wenig verlängert hat.

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