Werner Theurich
Der Spiegel, Germany
Dezember 2013

So war das nicht gemeint! Könnte ein leiser Einwand angesichts dieser Diätversion einer Symphonie sein, die zu den populärsten Werken Gustav Mahlers gehört. Doch welchen Reiz eine so reduzierte Darreichungsform entwickeln kann, zeigen Trevor Pinnock und sein Ensemble der Royal Academy of Music mit Präzision und jenem Mut, der sich auf Sinn für Spannung und Struktur stützt. Der musikalische Prachtbau Mahlers, einmal als luftig analytische Architekturzeichnung betrachtet: Was für eine Herausforderung! Pinnock und seine 14 Solisten meistern sie bravourös. Das Sopran-Solo mit einem Text aus der schon in anderen Mahler-Werken benutzten Gedichtsammlung Des Knaben Wunderhorn wurde natürlich beibehalten, wie es auch sonst trotz der Reduktion viel typischen Mahler zu erleben gibt.

Im Vergleich der ersten vier Symphonien, die Mahler selbst als eine eng aufeinander bezogene Tetralogie sah, klingt die letzte des Quartetts klassisch klar, mit melodischer Volkstümlichkeit und viersätziger Form, dazu fast traditionelle Arbeit mit Themen und Klangfarben. So bietet sich die Vierte (1901 in München uraufgeführt) für eine kammermusikalische Bearbeitung durchaus an—wenn auch die Spieldauer der G-Dur-Symphonie mit mehr als fünfzig Minuten nicht gerade eine Sprintstrecke darstellt.

Fast wie eine gediegene Filmmusik beginnt die Bearbeitung, die schnell an die englische TV-Serie Downton Abbey denken lässt. In der kleinen Besetzung blitzen Mahlers markante Themen und ihre stringente Entwicklung unmittelbar auf, 'unplugged' sozusagen, denn kein großer Klangkörper verstärkt die Ideen. Unter Trevor Pinnocks konzentrierter Führung lässt die Spannung in den langen Sätzen, dem ersten und dritten, zu keiner Sekunde nach. Wenn man sich erst einmal an den trockenen, kalorienarmen Klang der Academy-Musiker gewöhnt hat, nimmt man auch die überraschenden Wendungen und scharfen Akzente (wie im zweiten Satz) in aller Heftigkeit wahr—oft sogar in überraschend grellen Farben. Pinnocks Solisten vermeiden jeden Schmelz, aber geben alles für einen durchsichtigen, lebendigen Klang. Meist befördert gerade diese Kargheit die häufig beschworene 'Mahlersche Ironie' besonders effizient.

Diese Version der Symphonie wurde für den 1918 von Arnold Schönberg in Wien gegründeten Verein für musikalische Privataufführungen erstellt. Der Verein (Alban Berg war Mitbegründer) sollte neue Musik fördern und innovativen Werken schnell zu einem Publikum verhelfen, was nach dem Ersten Weltkrieg nicht immer leicht war. Als beste Lösung boten sich kleine Besetzungen an. Erwin Stein, ein Wiener Komponist und Schönberg-Schüler, bearbeitete Mahlers Vierte für ein Solistenensemble. Da er selbst vornehmlich Kammermusik und Lieder komponierte, besaß er Gespür für Mahlers Ideen und Formen—seine Version durchleuchtet Mahlers Werk, ohne es im Gehalt zu verkleinern. An manchen Stellen, vor allem im 'ruhevollen (poco adagio)' dritten Satz, entfaltet Steins Bearbeitung so viel Fluss und eigene Dynamik, dass man beinahe das Orchester vergisst, welches hier aufspielen sollte. Doch auch ohne Posaunen und Tuba bleibt die Vierte großes Kino—dafür trumpfen tiefe Pauken schicksalsschwer auf wie westindische Earth Drums.

Der englische Dirigent und Cembalist Trevor Pinnock, ursprünglich bekannt durch seine Aufnahmen und Konzerte in historisch informierter, am Originalklang orientierter Spielweise, widmet sich neben der Barockmusik auch Haydn und Mozart. Mit dem von ihm begründeten Orchester The English Concert gehört er seit vielen Jahren zu den eigenwilligsten Stars der Konzertszene. Mit der vorliegenden Mahler-Aufnahme und der charmanten Debussy-Eröffnung betritt Pinnock neues Terrain. Die hier vertretenen Musiker entstammen der renommierten Royal Academy of Music, die seit 1822 Solisten von Rang ausbildet und deren Absolventen von großen Orchestern und Dirigenten in aller Welt hoch geschätzt werden. Mit ihnen gelang Pinnock ein belebender Sound, der Mahler und auch Debussys Prélude ungewohnte Aspekte entlockt und den Bearbeitungen neue Berechtigung verlieh. Bitte mehr Experimente dieser Art, Mr Pinnock!